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Equine Expertise - Shifting Baseline Syndrom

Von Julie von Bismarck

 

Gestern war ich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder in einer „Reitschule“ (in Deutschland) und möchte dieses Erlebnis gerne hier teilen. Es ist nämlich ein sehr deutliches Beispiel dafür, dass wir es in der Reiterei mit einem Shifting Baseline Syndrom zu tun haben.
Was bedeutet: Die jahrzehntelang aus Gründen der Vereinfachung (um jedem den Traum vom Reiten ermöglichen zu können und schneller mehr Geld damit zu verdienen) vermittelten falschen Grundsätze wurden langsam aber sicher zur Realität.
Und so gilt es heute in großen Teilen der Reiterwelt als ganz normal, dass man mangels reitersicher Fähigkeiten einfach zu Schlaufzügeln, scharfen Zäumungen und Zwangsmethoden wie „Rollkur/LDR“ greift - als völlig selbstverständlichen Ersatz für reiterliches Können und Wissen sowie eine langjährige, durchdachte Ausbildung des Pferdes.
Ausrüstung als Ersatz für Ausbildung. Das hat mit Reiten natürlich überhaupt nichts mehr zu tun.
Ich war auf diesem Hof, um eine Kundin zu beraten, die ein Pony für ihre Tochter kaufen wollte. Dass besagtes Pony erst fünf war und in einer solch bedauernswerten Umgebung stand, spielte keine Rolle, da die Tochter unbedingt genau dieses eine Pony haben wollte. Es war noch eine Freundin der Kundin dabei, die ihre Tochter im selben Alter mitgebracht hatte. Die kleinen Mädchen waren schon ganz aufgeregt und konnten es gar nicht erwarten, das Pony zu putzen und probe zu reiten. Der Hof bestand aus einigen uralten Containerboxen, einem Anbindebalken, mehreren ungepflegten Weiden und Matschpaddocks sowie einem überdachten Reitplatz, dessen Boden aus steinharter, festgetretener Erde bestand -hie und da konnte man grosse Steine ausmachen, die aus der Oberfläche ragten. An dem Anbindebalken waren mehrere Ponys und Pferde angebunden, die allesamt aussahen, als hätten sie mit dem Leben abgeschlossen und von erstaunlich schweigsamen, ernst drein schauenden Mädchen geputzt wurden.
Ich versuchte das Elend um mich herum auszublenden und begann das von der Tochter ausgewählte Pony zu untersuchen. Beide Maulwinkel waren offen. Darauf angesprochen erklärte die Besitzerin der „Reitschule“ das sei ihr auch gerade erst aufgefallen und wohl zwei Tage zuvor „passiert“ genau an dem einen Tag an dem sie selbst nicht da gewesen sei.
Passiert.
Soweit ist es gekommen: Dass einem Pferd von einem Reitschüler (!!!!!!!!) noch dazu, die Maulwinkel aufgerissen werden, ist offenbar völlig normal. So etwas „passiert“.
Passiert doch bei den großen „Sportreitern“ auch ständig.
Natürlich war das ausserdem gelogen, denn die Verletzungen bestanden ganz offensichtlich schon seit Monaten und wurden bei jedem Reiten wieder aufgerissen. Ich bewunderte, wie freundlich sich das Pony uns und den Kindern gegenüber verhielt - es hätte jeden Grund gehabt, sich alleine schon deshalb gegen die Menschen, die ihm solche Schmerzen zufügten, zu wehren. Als ich mir die Füsse ansehen wollte, zog das Pony panisch die Beine hoch. Und während ich die gruselige Strahlfäule in allen vier Hufen begutachtete, erklärte die Betreiberin der „Reitschule“ lachend: „Ja, der zieht jetzt ordentlich die Beine hoch - ich hab das nämlich heute morgen gerade mit ihm geübt. Nicht dass Sie denken, ich hätte dem gegen die Beine gehauen oder so.“
Durchdachte, sorgfältige Ausbildung des Pferdes über mindestens sieben Jahre. Eine Ausbildung mit dem Ziel, die Gesundheit des Pferdes zu gewährleisten.
Das war der ursprüngliche Grundsatz der Reiterei.
Heute haut man dem Pferd also einfach gegen die Beine, um das Hufe aufgeben zu üben…
Die Reitschul-Inhaberin liess uns mit dem Pony alleine, welches sich dadurch kurz ein bißchen entspannte. Allerdings nur, bis meine Kundin eine Mohrrübe durchbrach, um dem Pony ein Stück davon zu geben. Es riss den Kopf hoch, ignorierte den schmerzhaften Druck des Nylonhalfters in seinem Genickund sprang panisch zurück. Das Knallen der durchbrechenden Möhre genügte, um das Pony in den Fight or Flight Modus zu versetzen. Ich musste die Tränen unterdrücken, die mir in die Augen schossen.
Die Besitzerin kam zurück, mit einem uralten Sattel, der ganz offensichtlich noch nie nachgepolstert worden war und mangels jeglicher Polsterung direkt auf dem Widerrist des Ponys auflag, was sie nicht im geringsten zu stören schien - und einer Trense. Wie selbstverständlich wollte sie wieder ein Gebiss in das aufgerissene Maul dieses armen Tieres stecken.
Es war wirklich erschütternd.
Wir erklärten, ein Halfter würde uns genügen zum „Probereiten“ und machten uns auf den Weg zu besagtem „Reitplatz“.
Dort wurde gerade ein anderer Reitschüler auf einem Pferd longiert, welches so eng ausgebunden war, dass es sich bei jedem Schritt beinahe überschlug. Die Reitlehrerin knallte permanent mit der Peitsche, um das Pferd anzutreiben, ohne jedoch vorher ein einziges visuelles oder verbales Kommando gegeben zu haben. Ersteres hätte dem Pferd eh nicht geholfen, da es aufgrund des nach unten gebundenen Kopfes nur den Boden sehen konnte. So oder so musste es raten, was sie eigentlich von ihm wollte. Die ständige Peitschen-Knallerei und die auf seine Flanken klatschende Schnur liessen keinen Zweifel daran aufkommen, dass es laufen sollte - also lief es. Es war ein Wunder, dass es nicht hinfiel.
Kurz darauf kam eine weitere Gruppe Reitschüler hinzu. Alle Pferde waren mit scharfen Gebissen und Hilfszügeln ausgestattet. Die Reitlehrerin brüllte und keifte, dass es eine Freude war, allerdings lediglich Kommandos wie: „Setz Dich mal durch!!!“ „Jetzt gib dem mal eine mit der Gerte, dass der vorwärts läuft!!!“ Wie gesagt, mit scharfen Zäumungen und Hilfszügeln aufgerollte Pferde.
"Vorne ziehen, hinten hauen" war offenbar das klare Motto dieses „Reitunterrichts“. Die Kinder auf den Pferden sahen nicht furchtbar glücklich aus, taten jedoch, was die „Reitlehrerin“ ihnen befahl. Wenn sie das sagte, war es ja sicher richtig.
Keines von ihnen wirkte so, als hätte es wirklich Freude an dieser Art der Reiterei. In manchen Gesichtern meinte ich ablesen zu können, dass sie sich unter Reiten etwas anderes vorgestellt hatten.
Zu Recht.
Das hatte mit Reiten absolut NICHTS zu tun.
Diese ziehenden, hauenden Kinder lernten, wie man einem Pferd Schaden zufügt. Mehr nicht. Das ist eine große Schande. Die Kinder kommen zum Reiten aus Liebe zum Pferd und dann wird ihnen in so einem Stall das Gegenteil vermittelt.
Unser Pony zuckte bei jedem Peitschenknallen zusammen, lief mit eingekniffenem Schweif und unter höchster Anspannung um uns herum und wir liessen es nach zwei Runden gut sein.
Auf dem Weg zurück zum Stall sagten die beiden kleinen Töchter wie aus einem Mund: „Wir müssen das Pony auf jeden Fall kaufen! Auch wenn man es noch nicht richtig reiten kann. Hier können wir es nicht lassen, die sind hier so gemein zu den Pferden!“
"Ja," murmelte ich, "eigentlich müsste man sie alle mitnehmen."
Das Schlimme ist: Diese Reitschul-Betreiberin und diese Reitlehrer denken wahrscheinlich wirklich, sie würden „Reiten“ unterrichten und pferdegerecht ausbilden. Sie halten ihre Methoden für vollkommen normal - weil seit Jahrzehnten daran gearbeitet wird, genau das zu erreichen. Weil es Weltmeister in diversen Sparten des Reitsports gibt, die so reiten. Weil sie selber so reiten gelernt haben. Weil es alle so machen.
Shifting Baselines.
Die Reiterei hat dadurch in Teilen ( glücklicher Weise nicht überall!) einen Zustand erreicht, den man nur als gruselig bezeichnen kann.
Wenn nicht schleunigst ALLE dafür sorgen,dass echtes Wissen über das Pferd eine GRUNDVORAUSSETZUNG ist, wenn man reiten möchte und dass zu den ursprünglichen Regeln und Werten zurück gekehrt wird, dann kann man fast nur hoffen, dass der Reitsport abgeschafft oder verboten wird. Denn die Quälerei des Pferdes aufgrund mangelnder eigener Fähigkeiten hat mit Reiten nichts zu tun. Die Baselines müssen zurück verschoben werden. Dringend.

 

 Ps: natürlich gibt es auch ganz tolle Reitschulen und Reitlehrer, die gestrige gehörte nicht dazu.